Martin Fischer
Softwareentwicklung

22.08.2022 Edge Cloud 4 Production: Wie Audi die Fabrikautomation revolutioniert


Zentral statt dezentral, lokale Server statt hunderter Industrie-PCs, Software statt Hardware: Mit der lokalen Serverlösung Edge Cloud 4 Production leitet Audi einen Paradigmenwechsel in der Automatisierungstechnik ein. Nach erfolgreicher Erprobung im Audi Production Lab (P-Lab) steuern künftig drei lokale Server die Werkerführung in den Böllinger Höfen. Bewährt sich die Serverinfrastruktur weiter zuverlässig, will Audi die weltweit einzigartige Automatisierungstechnik auf die Serienfertigung im Konzern ausrollen.

Henning Löser, Chef des Audi Production Lab, zieht einem Server im Ingolstädter P-Lab den Stecker. Die simulierte Fertigung der Böllinger Höfe läuft störungsfrei weiter. Zwei zusätzliche Server steuern die insgesamt 36 Takte während des Laborversuchs im P-Lab in Gaimersheim zuverlässig weiter. Als weltweit erster Hersteller will Audi in der taktgebundenen Fertigung auf eine solche zentrale Serverlösung setzen. In den Böllinger Höfen bei Neckarsulm teilen sich der Audi e-tron GT quattro1 und der R8 eine Montagelinie. Die dort gefertigten Kleinserien eignen sich besonders, um Projekte aus dem P-Lab zu testen und für die Großserie zu erproben.

Bei der Edge Cloud 4 Production übernehmen wenige zentrale und lokale Server die Arbeit von unzähligen teuren Industrie-PCs. Die Serverlösung ermöglicht es, Auslastungsspitzen über die Gesamtzahl der virtualisierten Clients zu nivellieren – ein deutlich effizienterer Verbrauch von Ressourcen. Die Produktion spart vor allem bei Software-Rollouts, Betriebssystemwechseln und IT-relevanten Aufwänden. „Was wir hier machen, ist eine Revolution“, sagt Gerd Walker, Vorstand Produktion und Logistik der AUDI AG. „Bislang mussten wir Hardware kaufen, wenn wir neue Funktionen einsetzen wollten. Mit der Edge Cloud 4 Production kaufen wir Applikationen nur noch als Software. Das ist der entscheidende Schritt zu einer IT-basierten Produktion.“ Für P‑Lab-Chef Löser ist das Projekt „eine Operation am Herzen unserer Automatisierungstechnik und Produktionssteuerung“. In der taktgebundenen Fertigung ist Audi der erste Hersteller, der eine zentrale Serverlösung im Testbetrieb einsetzt.

Server stehen in der Nähe der Produktion
Der entscheidende Vorteil von Edge Cloud 4 Production: Die zahlreichen Industrie-PCs in der Fertigung mit ihren Eingabe- und Ausgabegeräten lassen sich ersetzen und müssen nicht mehr einzeln gewartet werden. Zudem ist die Prozesssicherheit wesentlich höher. Bei einer Störung lässt sich die Rechenlast auf andere Server umverteilen. Ein defekter Industrie-PC dagegen muss getauscht werden. Das kostet Zeit. Zudem erleichtert die Lösung den Mitarbeitenden die Arbeit. An den Takten in den Böllinger Höfen stehen zukünftig sogenannte Power-over-Ethernet-fähige Thin Clients. Diese Endgeräte beziehen ihren Strom über das Ethernet-Kabel und ihre Rechenleistung größtenteils über die lokalen Server. Sie verfügen über USB-Eingänge für Ausgabegeräte. So können Mitarbeitende bei der Werkerführung an einem Monitor ablesen, was an welchem Fahrzeug montiert werden muss. Ein für diese Aufgaben überdimensionierter PC mit Prozessor- und Speicherkapazitäten ist künftig überflüssig. „Softwarebasierte Infrastrukturen haben sich in Rechenzentren bewährt. Wir sind überzeugt, dass sie auch in der Fertigung gut funktionieren“, sagt Löser.

Cloudlösungen sind beliebig skalierbar
Gemeinsam mit den Expert_innen aus dem P-Lab rollen die IT-Verantwortlichen um Christoph Hagmüller, den Head of IT Services bei Audi in Neckarsulm und mitverantwortlich für die Produktions-IT in den Böllinger Höfen, die neue Lösung aus. Aufgrund der im Vergleich geringeren Stück- und Taktzahl sind die Böllinger Höfe als Reallabor ideal, um das neue Konzept in der Serienfertigung zu testen. Die Edge Cloud 4 Production nutzt alle Elemente eines modernen Rechenzentrums von Datenspeicherung über Rechenleistung und Netzwerk bis zum dazugehörigen Management. Die Cloudtechnologielösung lässt sich zudem leicht skalieren, damit sie flexibel an zukünftige Aufgabenstellungen angepasst werden kann. Aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen in der Produktion kommt eine öffentliche Cloudanbindung allerdings nicht in Frage. Lokale Server ermöglichen zudem die notwendigen, sehr kurzen Latenzen. „Das sind die Gründe, warum wir die Server bei uns aufstellen. Deshalb nennen wir die Lösung auch Edge Cloud, weil sie in unmittelbarer Nähe zum Shopfloor steht“, sagt P-Lab-Chef Löser.

Patches lassen sich schnell über den Server auf alle Takte ausrollen
Das neue IT-Konzept verbessert auch den Wartungskomfort und die IT-Sicherheit. Bei Industrie-PCs sind die Patchzyklen, also die Abstände zwischen notwendigen Updates, meist länger. Zudem lassen sich Updates nur in Produktionspausen installieren. Mit der cloudbasierten Infrastruktur können die IT-Expert_innen Patches innerhalb weniger Minuten über den zentralen Server auf alle Takte ausrollen. Zudem spielen IT-Kolleg_innen Funktionsupdates, zum Beispiel die eines neuen Betriebssystems, auf alle virtuellen Clients gleichzeitig auf. „Den Mehrbedarf an Rechenleistung bereitzustellen, wird künftig immer aufwändiger und kostspieliger“, erklärt Hagmüller. Er schätzt, dass sich die Kosten für ein Update, etwa von Windows 10 auf Windows 11, durch Edge Cloud 4 Production um rund ein Drittel reduzieren lassen. „Mit der Serverlösung sind wir darüber hinaus nicht mehr abhängig von freien Zeitfenstern in der Produktion. Sie gibt uns eine sehr große Flexibilität, unsere Software und unsere Betriebssysteme immer auf dem aktuellen Stand zu halten.“

P-Lab erprobt Steuerung über ein 5G-Funknetz
Für die spätere Serienproduktion sind die beiden Rechenzentren im Werk in Neckarsulm vorgesehen. Ein Glasfaserkabel verbindet sie mit den Böllinger Höfen. 5G wird laut Henning Löser in einem zweiten Schritt relevant. Bislang sind in allen FTS (Fahrerlose Transportsystemen) eigene Rechner installiert. Auch hier müssen die Expert_innen aufwändig Sicherheitsupdates und neue Betriebssysteme aufspielen. Neue Funktionalitäten sind dafür zwar denkbar, aber kaum noch auf die Rechner übertragbar. „Dafür brauchen wir ein schnelles und hochverfügbares Netz“, sagt Löser. „In unserer Testumgebung im P-Lab sind wir im Hinblick auf 5G einige Schritte weiter.“